Hinter einer Balustrade

Dort, wo eine geschlossene Balustrade einen erhöhten Fußweg von einer viel befahrenen, zweispurigen Straße trennt, ging an einem Freitag Herr M.

Zahlreiche Passanten tummelten sich nach Feierabend vor den Geschäften. Herr M ging schnellen Schrittes, mit krampfhaft aufgerichtetem Oberkörper, zielstrebig, aber nicht ohne den Blick eines jeden Passanten, schnell und unauffällig zu prüfen, um festzustellen, ob man ihm nachschaue. Herr M trug ein gestärktes Hemd und eine Anzughose mit tadellosen Bügelfalten, die er den Tag über in unbeobachteten Momenten mit seinen Fingern zwischen seinen geschliffenen Fingernägeln unter seinem Bürotisch nachzog. Nichts an ihm hätte einen despektierlichen Blick auf sich ziehen können. Dennoch huschten Herr Ms Augen unruhig über das Schaufenster, in dem er sein Spiegelbild und das der Vorübergehenden unauffällig beobachten konnte und er lief hektischer, getriebener, als ihm ein Fussgänger länger und vielleicht nur aus Langeweile nachschaute. Denn an der Kreuzung endete die Geschäftszeile und hiermit auch die Balustrade zu Herr Ms Linken. Und eben in dieser seiner linken Hand trug Herr M Toilettenpapier, das er nun lieber in die rechte, in die der Straße abgewandten Hand, wechselte. Er wendete das Papier, so dass nun die Seite mit der weißen Aufschrift „samtig, weich“ von seinen Beinen und seiner elegant fallenden Anzughose verdeckt wurde. Auf der anderen Seite der Packung dominierte glücklicherweise der Schriftzug „Nature“ die Werbung für die Dreilagigkeit des Papieres. Darum kaufte Herr M Recyclingpapier und nicht etwa aus ethischen Gründen. In der Tendenz warben weiße Toilettenpapiere in auffälligen Rosatönen für ein geschmeidig, zartes Hautgefühl. Niedliche Motive wie flauschige Bären, Federn oder Vögelchen deuteten unmissverständlich darauf hin, dass es sich um Toilettenpapier handelt. Darum das Recyclingpapier. Herr Ms Haus lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Entgegen seiner Gewohnheit überquerte M nicht etwa mit den anderen Fussgänger die Straße an der Ampel, sondern alleine 20 Meter hinter der Kreuzung. Den Hausschlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger in der Hosentasche vorbereitet, hatte er im Augenblick die Haustür geöffnet und das Toilettenpapier durch den Spalt in den Flur geschoben. In seinem Treppenhaus traf Her M heute glücklicherweise keine Nachbarn. Die Einkaufstüten stellte M in seiner Wohnung sogleich auf dem Küchentisch ab, das Toilettenpapier hingegen nicht. Er behielt es in der Hand, ging in sein Bad, streifte die Rolle, an der ein letztes halbes Papier hing, vom Toilettenpapierhalter, riss die Packung auf, holte eine Rolle hervor und schloss die Tür hinter sich. Genüsslich und erleichtert für die nächsten zwei Monate genug Toilettenpapier auf Vorrat zu haben, ließ er achtlos, die immer noch in tadellosen Falten liegende Anzughose auf seine Schuhe herabgleiten und setzte sich.

Rotation


...während er mit dem rechten Fuss den Bürostuhl zum Rotieren brachte, um hinter sich und nun schon bereits vor sich, nach einem Aktenordner zu greifen, bedachte er beim Abheften einer erledigten Angelegenheit, die Antwort auf eine Frage, die ihm gestellt werden könnte, sobald er
mit der linken Hand eine Email absenden würde, die er beim blinden Abheften Korrektur gelesen hatte und brachte so, die Akte mit dem Fuß in das Regal schießend, den Stuhl zurück rotierend, eine Formulierung in einen Nebensatz ein, die dem Empfänger ohne ihm Inkompetenz vorzuwerfen, genau dieser entgegen wirkte und eine wertvolle Zeitersparniss einbrachte, die er benötigen würde, da auf dem Display am Telefon die Nummer einer redundanten Abteilung aufblinkte, bevor das Telefon zu klingeln begann ....

Der Habicht


Kleine Zettel rieselten auf seinen Bürotisch, als er sich vorbeugte, den Bürostuhl zurück stieß, sich erhob, die Arme nach vorne ausstreckte und jeweils mit beiden Händen einen Stapel Din A4 Zettel aus der Ablage riss und krampfhaft schüttelte. Als es ihm nicht gelang mit beiden Händen simultan die Zettel in die Ablage zurück zu drücken, das Papier sich aufbäumte, verknickte und herausfiel, atmete er durch die Nase schnaubend aus. Das Einatmen in gespannter Aufrichtung hinauszögernd, kniff er die Augen zusammen und überflog die auf gelben, roten, herausgerissenen oder abgetrennten Klebe- Notiz- oder Blockzetteln vermerkten Fragmente wie anrufen, bedenken, kontrollieren, optieren und recherchieren und biss sich auf die Unterlippe als er den rechten Finger auf den längst schon ausgetrockneten Klebestreifen eines blass gelben Zettels drückte, den er gar nicht erst umzudrehen brauchte um sich an den mit dem ausgetrockneten Stift in das Papier gerissenen Wortlaut und das Ausrufezeichen dahinter zu erinnnern und jene Sache bedachte, die genaus so drängte wie die für die, die Notiz vom letzten Freitag relevant war.
Und so atmete er, die Lippen fest zusammen pressend, heftig durch die Nase ein, schnellte mit dem Oberkörper herunter zum Papierkorb, verfluchte die Achtlosigkeit der libanesischen Putzfrau, erinnerte den Zettel abwechselnd grün, rot oder safran-gelb und riss mit beiden Händen rechts und links von sich Schubalden, in denen der inzwischen rosane Zettel nicht sein konnte dennoch auf, um im Irrwitz des aussichtslosen Suchens an ausgeschlossenen Orten mit dem Scheppern der verbogenen Rollen in der metallenen Führungsschiene seinem Gefühl Ausdruck zu verleihen und stieß sich zuletzt beim Aufrichten den Kopf an der Tischkante. Den Hinterkopf massierend versuchte er das pulsiernde Gefühl in seinem Nacken loszuwerden als sein Blick in der Luft hängen blieb. Ein Habicht flog in einiger Entfernung an seinem Bürofenster vorüber und hatte den Blick bei gleichmäßigem Flügelschlag fest auf den Boden gerichtet. Der Vogel hob den Kopf und nahm einen der mächtigen Stahlbögen ins Visier um darauf zu landen. Ein Zug fuhr vorbei, jemand ging mit seinem Hund spazieren. Trotz der Reflektionen auf der doppelten Brandschutzverglasung war ihm als würde der Blick des Habichts ihn treffen und so schaute er in das starre Auge des Vogels. Nach einer Weile setzte er sich. Ihm war die Notiz eingefallen. Auch hatte sich das flaue Gefühl in seinem Magen gelegt, das ihn seit dem frühen Morgen plagte.

Schokolierte Waffelröllchen

Über die Vorzüge der Komfortklimasysteme der SX Serie gegenüber jenen der TSX Serie hatte er schon oft gesprochen. Dennoch würde er heute in dem Meeting um 10 Uhr abermals mit Jana Klein sprechen, die ganz auf seiner Seite war und die Bedeutung der SX Serie für die Sick AG an ihre Vorgesetzte Hanna Schering herantragen wollte, da jene einen guten Draht zu Manuel Freitag vom Vertrieb und Marketing hatte, dessen Meinung vor dem Vorstand zählte. Weiterhin würde er die Tragweite des neuen Systems bis 17 Uhr erneut acht weiteren Abteilungen vorstellen. Als heute jedoch Jana Klein in dem Meeting wiederum betonte wie wichtig die SX Serie für die Sick AG sei und dabei den einzigen technischen Nachtteil des Systems als Premiumkomponente hervorhob, griff er trotz seiner Abneigung für schokolierte Waffelröllchen zu den vom Vorstandsmeeting zurück gebliebenen Keksteller um nach einer kurzen Stärkung abermals die Multisplit Bauform des Systems zu erläutern. Der trockene Biskuit zerstäubte in seinem Mund und klebte nach dem ersten Kauen bereits an Rachen, Gaumen und Zunge. Dennoch begann er zu sprechen. Während er mit Mund-, Rachen- und Nasenhöhle den Schall modulierte verteilte sich der Biskuitstaub in seinem Mund und verklumpte partiell so sehr, dass er bei dem von ihm so oft artikuliertem Wort „Effizienz“ an den Spruch „sich den Mund fusselig reden“ denken musste und spürte wie dies in jenem Moment geschah. Die staubigen Biskuitklumpen hefteten sich zwischen seine Zähne und bei dem Wort „Effizienz“ kamen nur „Fffff-Zzzz“ Laute aus seinem Mund. Er wollte sich gerade entschuldigen und hinter vorgehaltener Hand den Staub aus den Zähnen pulen, als er bemerkte, dass Jana Klein ihm mit ununterbrochener Aufmerksamkeit zuhörte. Nur um die Situation zu begreifen, setzte er seine Rede fort. Entgegen seiner Erwartung nickte Jana Klein bestätigend und kommentierte mit der Anmerkung „Ganz Wichtig!“ die Bedeutung einer Systemkomponente, die er mit einer Reihe von ZZZ-FFF-SCH Lauten erklärt hatte. Die faserigen Biskuitklumpen blieben noch den ganzen Tag und trotz täglichem, mehrmaligen Zähne putzen auf der Firmentoilette ca. eine Woche zwischen seinen Zähnen. Wegen der Dringlichkeit der Sache sagte er diese Woche keines der Meetings ab und redete weiterhin gezischelt und in von Fusseln gedämpften, unverständlichen Lauten über die neuen Komfortklimasysteme. Anfang der nächsten Woche war die SX Serie in aller Munde und der Vorstand hatte das Budget für die Einführung der SX Serie genehmigt. Der Vorstand hatte die Neuerungen des Systems in einer Rede vor den Aktionären und der Presse zwar in gezischelten Lauten zitiert. Dennoch berichtete die Presse vollmundig über die Serie und so war er letztendlich stolz, dass all das Reden seinen Sinn gehabt hatte.

Made in Vietnam


Er strich immer wieder die Rillen seiner Teekanne entlang. Vorwärts, rückwärts. Als stellvertretender CIO der Sick AG war er davon ausgegangen nach Schillers galantem Abgang seinen Posten zu übernehmen. Schiller hatte sich beim Vorstand unbedingt für ihn einsetzen wollen. Vor einigen Monaten hörte er im Vorbeigehen Fetzen eines Gespräches zwischen seinem zwei Jahre jüngeren Kollegen Behrens und Schiller. Sie sprachen auf dem Flur -jeweils mit einer Teetasse in der Hand- schwärmerisch über die japanische Teekultur.
Daraufhin hatte er sich eine japanische Teekanne gekauft. Allerdings - da er kein Teetrinker war- eine Kanne "Made in Vietnam". Sie stand seitdem immer neben seiner Tastatur. Er trank meistens nur eine Tasse, obwohl die Kanne ein Fassungsvolumen von 0,9 Litern hatte. Seit heute wusste er es. Behrens würde der neue CIO der Sick AG sein. Noch zwei Mal strich er die gusseisernen Rillen entlang. Dann nahm er die Kanne samt Tee und warf sie in den Müll. Auf dem Gusseisen ließ er im Papierkorb die Teeschale zerschellen. Unter dem Tisch holte er die blau schillernde Plastikthermoskanne und den bunten Hello Kitty Becher hervor, den seine Tochter ihm zum Geburtstag geschenkt hatte und trank hemmungslos einen ganzen Becher Kaffee -schwarz- auf Ex.

Entspannung

Zwei Mal am Tag machte Konrad seine kleinen Übungen für die Entspannung im Büro. Er wippte in der Vierfüßler Position zehn Mal auf seinem Gymnastikball auf und ab, setzte sich, legte die Hände in den Schoß, atmete mit Hilfe des Zwerchfells in die Tiefe seines Bauches
und wiederholte dabei den Gedanken "Ich atme Frieden ein, ich atme Angst aus". Dann öffnete er auf seinem IPad die meditative iZenApp und wanderte unter Blockflötenklängen vom Steingarten zum virtuellen Zen-See. Inzwischen atmete er nur noch "Frieden und Selbstvertrauen" und öffnete gerade die Augen um gestärkt in den Berusalltag zurückzukehren, als Zellner die Tür aufriss. Er war fünf Minuten zu
früh erschienen. Konrad schaltete so schnell es ging den Bildschirm aus, stieß den Gymnastikball unter den Tisch und zog seine Mappe mit dem vorfomuliertem Vortrag hervor. "Was manche Leute einem so für Videos zuschicken" murmelte Konrad leise und folgte Zellner aus dem Raum.